Weltnaturerbe Bialowieza
Stellen sie sich vor, sie stehen bei ihrem Sonntagsspaziergang plötzlich einer Phalanx spitz gekrümmter Hörner gegenüber. Hinter mächtigen alten Baumstämmen tönt dumpfes Schnauben und durch das umliegende Gebüsch irrlichtern bernsteinfarbene Augenpaare. In Deutschland können sie vor solcher Art Überraschungen sicher sein.
Ein einsam verirrter Wolf wurde im Januar 2003 bei Hildesheim von einem schießwütigen Jäger abgeknallt, weil er ihn für einen streunenden Schäferhund gehalten hatte – und Großrinder sind aus unseren Wäldern seit mehr als zweihundert Jahren verschwunden. In manchen Teilen Europas, nicht allzu weit entfernt, sind solche Begegnungen aber noch gelebte Realität.
Der Urwald von Bialowieza ist ein riesiger Waldkomplex beidseits der Grenze von Polen und Weißrussland. Das Weltnaturerbe und Biosphärenreservat der UNESCO, eingebettet in die Gabelung der Flüsse Hwoźna und Narewka, umfasst auf polnischer Seite rund 10.000 Hektar. Weitere 170.000 Hektar schließen sich als Biosphärenreservat auf russischem Staatsgebiet an.
Große Teile des Waldes dürfen gar nicht oder nur mit Sondergenehmigungen betreten werden. Es ist ein Mischwald mit Jahrhunderte alten Eichen, mächtige Ulmen, turmhohen Linden und schlanken Fichten, Kiefern und Schwarzerlen dazwischen, letztes Rückzugsgebiet von Schwarzstorch, Blauracke, Schlangenadler, Rotdrossel, Zwergschnäpper und neun teils hoch bedrohten Spechtarten. Seit 1979 ist der Restbestand eines europäischen Urwaldes das einzige Weltnaturerbe der UNESCO in Polen, 1992 erweitert um den weißrussischen Nationalpark „Belowesher Wald“.
Seine Existenz bis in die Gegenwart verdankt der Urwald der Tatsache, dass er im Laufe der Geschichte von wechselnden Regenten für die königliche Jagd genutzt wurde. So blieben die ursprünglichen Wälder bis ins 20. Jahrhundert erhalten und mit ihnen, stark dezimiert, das größte Säugetier Europas – der Wisent.
ie Naturgeschichte des europäischen Flachlandwisents ist eine Geschichte des Niedergangs. Weltkriege, Jagd und die Rodung der letzten Urwälder, hatten die mächtigen Zottelrinder Anfang des vergangenen Jahrhunderts an den Rand der Ausrottung gebracht. Mit den Wäldern schwanden auch die Wisente dahin. Am längsten überlebten sie in der Bialowiezaheide und den umliegenden Urwäldern.
Dort gab es vor dem Ersten Weltkrieg noch über 700 Wisente - danach nicht einen Einzigen. Trotzdem stellte man den Wald von Bialowieza unter Schutz. Am 29. Dezember 1921 entsteht das Forstrevier „Reservat", aus dem 1932 der „Nationalpark in Bialowieza" mit einer Fläche von knapp 4.700 ha hervorgeht. Die 1923 gegründete Internationale Wisentschutzgesellschaft konstatiert Ende 1924 die Existenz von lediglich 54 Europäischen Flachlandwisenten auf dem gesamten Globus. Von ihnen stammt die gesamte heute in Polen und Russland lebende Population.
1947 wird das Schutzgebiet noch einmal geringfügig erweitert. Die UNESCO erkennt den Nationalpark 1977 als Weltbiosphärenreservat an und setzt ihn zwei Jahre später als einziges Naturschutzgebiet in Polen auf die Liste des Weltnaturerbes. 1992 wird das Areal auf den östlich angrenzenden Teil des weißrussischen Nationalparks „Belowesher Wald“ ausgedehnt.
Insgesamt stehen so über 10.000 Hektar europäischen Urwaldes unter strengem Schutz. Seit mehr als achtzig Jahren und wahrscheinlich auch davor wurde im Wald von Bialowieza durch menschliche Einflüsse nichts mehr verändert. Bäume leben hier ihren vollen Zyklus – vom Sämling bis zum faulenden Stamm. Borkenkäfer dürfen sich austoben und umgestürzte Baumriesen bleiben liegen und verrotten – als Brutstätte neuen Lebens. Immerhin machen sie etwa 10-15% der gesamten Holzmasse aus.
So vielfältig die Lebensräume, so weit gefasst ist auch der Artenreichtum im Bialowieza Wald. Die 113 Pflanzengemeinschaften mit 632 Arten, darunter 35 Busch- und 24 Baumarten bilden zusammen 29% der gesamten polnischen Flora. Hinzu kommen noch einmal 254 Flechten-, 80 verschiedene Lebermoos- und rund 3.000 Pilzarten. Auf tierischer Seite stehen ihnen 54 Arten von Säugetieren mit Bison, Wolf, Luchs und Biber, 232 Vogelarten sowie 12 Amphiben- und 7 Reptilienarten gegenüber. Zudem gibt es rund 8.500 unterschiedliche Spezies von Insekten, die kaum jemand je untersucht hat.