Hutelandschaftspflege im Solling
Hutelandschaftspflege und Artenschutz mit großen Weidetieren im Naturpark Solling-Vogler (bei Amelith, Landkreis Northeim/Niedersachsen).
Rückkehr der Auerochsen - Das Hutewald-Projekt im Solling
Filmdokumentation in Produktion - aktuelle Informationen
Die Rückkehr ausgestorbener Urtiere ist heute in aller Munde. Fortschritte in der Gentechnologie scheinen solche Visionen in den Bereich des Möglichen zu rücken. Einige Bewohner eiszeitlicher Steppen gibt es bereits wieder - zumindest dem äußeren Anschein nach.
Tarpane und Auerochsen sind wieder auferstanden - als Abbildzucht aus heute lebenden, nah verwandten Rassen. Wie nicht anders zu erwarten sind sie dem ausgestorbenen Original genetisch nur bedingt ähnlich. Streng genommen entsprechen sie vollständig neuen Zuchtformen. Doch ihr Erscheinungsbild gleicht dem Vorbild in vielen Fällen bis aufs Haar. Für die meisten Menschen besitzt die Vorstellung von der Rückkehr der eiszeitlichen Waldbewohner einen ungeheuren Reiz.
Im Solling, einem waldbestandenen Landstrich nordwestlich von Kassel, wurden im August 2000 erstmals Heckrinder, die Abbildzucht des ausgestorbenen Auerochsen oder Ur in eine begrenzte Freiheit entlassen - wenngleich aus völlig anderen Motiven.
Es geht den Initiatoren des Projektes weniger um die sensationsträchtige Rückführung eiszeitlicher Faunenelemente, als um ein landschaftsökologisches Großexperiment.
Wissenschaftler der Fachhochschule Lippe und Höxter, die das Projekt leiten, suchen eine Antwort auf die Frage, wie die mitteleuropäischen Landschaften, die uns heute umgeben, entstanden sind. Sind sie die Folge menschlichen Vordringens in zuvor unbesiedelte Gebiete oder eine direkte Konsequenz aus klimatischen Bedingungen und der damals vorherrschenden Tierwelt?
Dass die Wahl für die groß angelegte Untersuchung im Solling auf Exmoor Ponies und Heckrinder fiel, hat naheliegende Gründe. Für die Haltung von Wildtieren in der relativen Freiheit eines Großreservats ohne zusätzliche Hege braucht es robuste, widerstandsfähige Arten. Und sie sollten ihren natürlichen Vorgängern im Ökosystem so ähnlich sein wie möglich.
Die unter Landschaftsforschern umstrittene, sogenannte Weidelandschafts- oder Megaherbivorentheorie geht davon aus, dass der ökologische Druck großer Pflanzen-fresser genau jenen Typus einer mosaikartigen, offenen Waldlandschaft herausgebil-det hat, wie wir sie heute kennen.
In einem 170 Hektar großen umzäunten Areal werden in einem zunächst auf fünf Jahre angelegten Projekt die unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Beweidung durch Pferde, Rehe, Wildschweine und Heckrinder für den Wald und die darin verstreut liegenden Freiflächen beobachtet.
Dieser theoretische Ansatz ist keine Erfindung moderner Ökologen, sondern ein seit dem Mittelalter bewährtes Prinzip. Große Teile des Waldes im Gebiet des heutigen Solling sind ihrer ökologischen Struktur nach Hutewälder. Der Begriff entlehnt sich dem altdeutschen Wortstamm "hute" für hüten und bezeugt, dass der Wald im Mittelalter als Weidegrund für Haustiere genutzt wurde. Dort, wo heute wieder Heckrinder und Exmoor Ponies grasen, trieben die Hirten der umliegenden Dörfer bis ins ausgehende 18. Jahrhundert regelmäßig bis zu 20.000 Stück Vieh - Rinder, Pferde, Schweine, Ziegen, Enten und Gänse - zur Sommermast in den Wald.
Den Heckrindern und Exmoor Ponies steht ein Lebensraum zur Verfügung, der weitestgehend aus lichtem Eichenwald mit krautigem Unterwuchs und teils dichten Beständen von Adlerfarn besteht.
Akribisch haben die beteiligten Forscher das faunistische und floristische Artenrepertoire inventarisiert um jede Veränderung der Artenzusammensetzung oder der Vegetationsstruktur registrieren zu können.
Der Adlerfarn, in manchen Regionen Deutschlands zu einer Plage geworden, die unter bis zu zwei Meter hohen Dickichten jede gesunde Strauchschicht erstickt, geht bereits partiell zurück.
Die Auerochsen trampeln die Pflanzen auf der Suche nach Eicheln, Beeren, Blättern und Gräsern nieder und schaffen so Raum und Licht für typische sonnenliebende Sträucher, die in hellen Eichenwäldern gewöhnlich das untere Stockwerk bilden.
Damit eignen sich die schwarzen Kolosse hervorragend für ein neuartiges Land-schaftspflegekonzept, das sich die Lebensweise von großen, für den mitteleuropä-ischen Lebensraum ehemals typischen Pflanzenfressern zu nutze macht, um Landschaften naturnah zu erhalten.
Nach Meinung von Prof. Gerken vom ökologischen Arbeitskreis der Fachhochschul-abteilung in Höxter, der dem Projekt als Leiter vorsteht, bedarf es im europäischen Naturschutz eines strikten Umdenkens. Für ihn geht es darum zu beweisen, dass Landschaften, die wir heute für kulturnah und damit wenig schützenswert erachten, einst durch den Einfluss großer Pflanzenfresser geprägt wurden, also bereits bevor der Mensch viele Landstriche besiedelte.
Für ihn bedeuten Landschaften jedweder Art offene Systeme, die sich weiter ent-wickeln und keine Naturdenkmäler, die es zu bewahren gilt.
Und er möchte den Menschen nach Möglichkeit integrieren. In ein vernetztes System von ökologischen Inseln, in denen sich jene Tiere frei bewegen können, die einmal maßgeblich zur Bildung der heutigen mitteleuropäischen Landschaft beigetragen haben. Auf diese Weise erhält sich Ursprünglichkeit ohne weiteres Zutun des Menschen und Evolution findet trotzdem noch statt. Gleichzeitig besitzen solche Gebiete einen hohen Freizeitwert.
Für den erholungssuchenden Menschen bedeutet ein Besuch im Solling eine Reise zurück durch die Zeit. Als regelmäßige Einrichtung werden der Naturpark Solling-Vogler und die Fachhochschule Lippe und Höxter ab diesem Jahr geführte Exkursionen in das Großreservat im Solling anbieten. Dann wird es Besuchern wieder möglich sein, in einer sehr ursprünglichen, offenen Waldlandschaft das dumpfe Brüllen von Auerochsen zu hören, das bereits unseren Vorfahren zu Recht Respekt einflößte.
Weitere Informationen zum Hutewald-Projekt auf den Seiten der Abteilung Tierökologie der Fachhochschule Lippe/Höxter.